Sexualität und Sinnlichkeit
Lust und Genuss, Erotik und Sinnlichkeit
sind eng miteinander verbunden.
Lust und Genuss, Erotik und Sinnlichkeit sind eng miteinander verbunden. Erfüllte Sexualität ist auf sie angewiesen: Wenn es um mehr geht als um bloße „genitale Verstöpselung“ zum Zwecke der Fortpflanzung, müssen wir all unsere Sinne mit einbeziehen, einschließlich unserer Fantasie. Wie und warum? Das beschreibe ich in den folgenden Zeilen.
1. Sexualität von Anfang an
„Der Mensch ist ein sexuelles Wesen von Anfang an“ – das ist Konsens in der modernen Sexualpädagogik. Das bedeutet, die Fähigkeit zu sexuellen Empfindungen ist uns bereits in die Wiege gelegt und begleitet uns bis zur Bahre; also auch im Alter. Freilich verändert sich die Qualität der sexuellen Erfahrungen im Lauf des Lebens: grundsätzlich in der Pubertät (von einer naiv-kindlichen hin zu einer erotischen, mit Bedeutung aufgeladenen Erwachsenensexualität) und weiter mit den verschiedenen Lebensphasen. So hat jeder Mensch seine individuelle sexuelle Biografie, die mit fortschreitendem Alter meist immer vielfältiger und reicher an Erfahrungen wird.
Sexualität bedeutet dabei freilich nicht Geschlechtsverkehr, sondern in erster Linie Lust und Genuss!
Schon mit der Geburt (oder sogar bereits vorher) sind wir mit drei sogenannten „Lustpäckchen“ ausgestattet:
- Der oralen Lustfähigkeit – wir genießen es, zu trinken oder zu essen, zu saugen, zu lutschen und zu schlucken.
- Der analen Lustfähigkeit – wir empfinden es als angenehm, uns zu entleeren, unsere Schließmuskeln sich entspannen zu lassen und die Erleichterung in Darm und Blase zu verspüren.
- Der genitalen Lustfähigkeit – unsere Genitalien reagieren auf Stimulation mit einem angenehmen Kribbeln, das leicht dazu einlädt, sie weiter zu berühren. Das geht bis hin zu einer Entladung der genitalen Energie in Form eines Orgasmus, auf den eine angenehme Entspannung folgt.*
Aber natürlich können wir auf vielerlei andere Weisen Lust empfinden – diese müssen wir jedoch in Teilen erst erlernen! Dazu gehören unter anderem:
- Die Lust an Berührung – Hautkontakt, Streicheln, Kuscheln usw.
- Der Spaß an Bewegung – die Körperbeherrschung, die Kraftentfaltung beim Rennen, Springen, Tanzen, Klettern etc.
- Der Genuss durch Wahrnehmung – sei es beim Betrachten eines Kunstwerks, beim Hören von Musik, beim Einatmen eines Duftes, dem Gefühl von Sonne oder Wind auf der Haut …
- Die angenehmen Gefühle, wenn wir mit anderen Menschen (oder Tieren) in Beziehung treten – wir spielen, wir helfen, wir fühlen mit, wir streiten und versöhnen uns, und vor allem erleben wir, dass wir anerkannt, akzeptiert und gemocht werden.
- Der Spaß an Geschichten und Erzählungen, an Fantasie und Imagination;
- Das genussvolle Prickeln des Neuen, Aufregenden, die Spannung des Unbekannten;
- Die Freude an Selbstwirksamkeit, am Finden von Problemlösungen;
- Die anregende Neugier und das befriedigende Gefühl, wenn Neugier gestillt wird, wenn wir dazulernen, Wissen erwerben und uns Informationen aneignen;
- … und viele andere mehr.
Vielleicht wurde es dir bereits beim Lesen des Bisherigen klar: „Lust“ meint keineswegs nur das sexuelle Lustempfinden. Vielmehr bezieht sich Lust auf alles, was uns Genuss bereitet oder zukünftigen Genuss verheißt. So haben wir Lust auf Dinge, bevor wir Lust an ihnen empfinden, weil wir antizipieren können, welche Erfahrungen uns wahrscheinlich gefallen werden. Und je mehr wir Lust auf etwas haben, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir auch tatsächlich Gefallen daran finden werden!
2. Erotik und Sinnlichkeit
Menschliche Sexualität unterscheidet sich von tierischer Sexualität dadurch, dass sie nicht nur der Fortpflanzung dient.** Wir zelebrieren unsere Sexualität, wir laden sie mit vielfältiger Bedeutung auf und wir tun viel dafür, unsere Sexualität so genussvoll wie möglich zu erleben.
Hier kommen die Begriffe „Erotik“ und „Sinnlichkeit“ ins Spiel. „Sinnlichkeit“ kommt natürlich von unseren Sinnen und hat damit zu tun, was die Sinnesorgane an Eindrücken aufnehmen:
- Was sehen wir? – Wir sind Augentiere und sehr daran gewöhnt, vor allem auf das zu achten, was wir sehen. Aber vernachlässigen wir nicht die übrigen Sinne:
- Was hören wir? – Auf viele Geräusche achten wir gar nicht, weil sie uns nicht wichtig erscheinen.
- Was riechen wir? – Dies beeinflusst uns oft auf einer ganz unbewussten Ebene.
- Was schmecken wir? – Nicht immer ist Geschmack im Spiel, aber wenn, dann hat er oft ganz unmittelbar mit Genuss oder Abscheu zu tun.
- Was fühlen und was spüren wir? – Hier können wir drei verschiedene Arten des Fühlens unterscheiden:
- Tasten: Wie fühlt sich etwas für die Finger an? Was für Informationen gibt uns das über die Beschaffenheit dessen, was wir berühren?
- Spüren: Wie fühlt sich eine Berührung, ein Gegenstand, ein Temperaturunterschied auf dem eigenen Körper an?
- Körperwahrnehmung: Hier geht es um die Eigenwahrnehmung – wie fühlen sich bestimmte Bewegungen an? Wie spüren wir unsere inneren Regungen im Körper?
Wenn Sinnlichkeit mit der Vielfalt der Sinneseindrücke zu tun hat, dann folgt daraus, dass sinnliche Sexualität nicht nur auf die Empfindungen der Genitalien bezogen ist, sondern die gesamte Vielfalt unserer Wahrnehmung mit einbezieht. Dabei sind zwei Punkte wichtig zu wissen.
Erstens wird uns nur ein winziger Teil unserer Sinneseindrücke jemals bewusst. Der allergrößte Teil wird im Hirn bereits im Vorfeld ausgesiebt als „nicht relevant, damit muss das Bewusstsein nicht behelligt werden“. Die Verarbeitung erfolgt daher unbewusst. Das bedeutet aber nicht, dass all diese Informationen ignoriert würden! Auch wenn sie dem Bewusstsein nicht zugänglich gemacht werden, beeinflussen sie doch unser Denken und Fühlen, legen bestimmte Handlungen und Reaktionen nahe und wirken auf unser Lustempfinden.***
Zweitens können dieselben Sinneseindrücke von zwei Menschen völlig unterschiedlich interpretiert werden: Schummriges, gedämpftes Licht kann Geborgenheit und Sicherheit vermitteln oder bedrohlich wirken; ein Duft kann „zum Reinlegen“ sein oder grauenhafte Erinnerungen wecken. Wie wir Sinneseindrücke interpretieren, hängt einerseits vom Kontext ab, andererseits auch von den individuellen Lernerfahrungen, die wir im Lauf unseres Lebens machen. Die sinnliche Lust einer jeden Person ist daher ebenso einzigartig wie ihre Biografie.
Noch ein Wort zu dem Begriff „Erotik“. Dieser bezeichnet für mein Verständnis alles, was für einen Menschen sexuell anregend wirkt. Dazu gehört das Spiel der Sinne ebenso wie das Zusammenspiel von Körper und Psyche, wenn es um Fantasien, Anziehungscodes und Erinnerungen geht. Die genitale Stimulation und Erregung ist davon allenfalls ein kleiner Teil.
3. Sinnlichen Genuss intensivieren
Wie kann es nun gelingen, den sinnlichen Genuss zu intensivieren, um auch Erotik und Sexualität erfüllender zu erleben? Hierzu haben wir drei Möglichkeiten zur Verfügung, die alle darauf abzielen, in einer Weise die Wahrnehmung zu intensivieren. Zum Teil überlappen sich diese, sind also nicht ganz trennscharf zu betrachten.
Erstens können wir intensivere Reize setzen, um intensiver ins Spüren zu kommen. Dies kann eine stärkere Stimulation der Genitalien bedeuten, ein lautes Aufdrehen der Musik oder das Anschauen immer ausgefallenerer und „krasserer“ Sexualpraktiken in Pornos. Unser Gehirn gewöhnt sich freilich an ein gewisses Reizlevel und bemüht sich in der Folge, die Wahrnehmung „herunterzuregeln“, um wieder Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden zu können.
Zweitens reagieren wir intensiver auf alles, was unbekannt ist – das ist der berühmte „Reiz des Neuen“. Was wir nicht kennen, kann unser Gehirn noch nicht automatisiert verarbeiten; es wird daher mit höherer Wahrscheinlichkeit dem Bewusstsein zugänglich gemacht und mit Aufmerksamkeit geprüft. Solange mit dem Unbekannten keine Gefahr verbunden ist, aktiviert es Neu-Gier, das aufregende Prickeln des Noch-zu-Erkundenden, positive Aufregung und Spannung. – Das Problem ist freilich, dass das Neue nicht lange neu bleibt, sondern zwangsläufig irgendwann bekannt wird. Durch Variation können wir dem bis zu einem gewissen Grad vorbeugen; dennoch hat die Suche nach dem immer Neuen ihre natürlichen Grenzen.
Drittens können wir versuchen, das intensiver wahrzunehmen, was wir bereits kennen. Der Schlüssel dafür lautet Achtsamkeit: „Energy goes where attention flows“ – die Energie folgt der Aufmerksamkeit, so lautet ein bekannter Spruch. Indem wir unseren Fokus bewusst auf unser Erleben im Hier und Jetzt richten, uns auf unsere verschiedenen Sinneswahrnehmungen konzentrieren und sie uns bewusst machen, kommen wir in ein intensiveres Erleben. Dieser Prozess erfordert Langsamkeit und ein wenig Übung – zu sehr sind wir daran gewöhnt, die Sinneseindrücke zu filtern und uns auf andere Dinge zu konzentrieren.
Bei all diesen Punkten geht es darum, eine intensivere Wahrnehmung über die Sinne zu erlangen. Aber vergessen wir den Kopf nicht! Was uns Menschen auszeichnet, ist ja unter anderem die Fähigkeit, reale Sinneseindrücke durch Imagination zu ersetzen oder zu ergänzen. Und so können Fantasien, Erinnerungen und mentale Repräsentationen wunderbare Möglichkeiten sein, Begehren entstehen zu lassen und zu schüren und eine wundervolle, erfüllte Sexualität zu erleben.
4. Reflexionsfragen
Wenn du den Text bis hierher gelesen hast, möchtest du vielleicht noch ein wenig darüber nachdenken, wie es eigentlich bei dir ist und was du tun könntest, um mehr Sinnlichkeit zu erleben. Dabei könnten dir die folgenden Fragen helfen:
- Welche „Lustpäckchen“ sind für dich die wichtigsten?
- Wobei, unter welchen Umständen, in welchen Situationen empfindest du Lust (im Sinn von Genuss)?
- Welche Kontexte, welche Wahrnehmungen fördern bei dir die sexuelle Erregungsfähigkeit? Welche Erfahrungen laden deine Lust ein?
- Welchen Stellenwert hat für dich die genitale Sexualität?
Der obige Blogbeitrag basiert auf Ideen, die ich für einen Impulsvortrag zum Thema „Sexualität und Sinnlichkeit“ für den Verein BELIA (Besser leben im Alter) am 21.05.2024 erarbeitet habe.
Willst auch du deine sinnliche Seite entdecken und endlich eine erfüllte Sexualität leben? Melde dich gern bei mir!
Fußnoten
*Für mehr Informationen zur kindlichen Sexualität kann ich das Buch „Was kribbelt da so schön? Von Beginn an aufklären für einen selbstbewussten Zugang zu Sexualität, Körper und Gefühlen“ von Magdalena Heinzl empfehlen.
**Tatsächlich gibt es auch verschiedene Tierarten, die Sexualität ebenfalls zu anderen Zwecken als der bloßen Fortpflanzung einsetzen. Am bekanntesten sind wohl unsere nahen Verwandten, die Bonobos, für die Sexualität ein beliebtes und ausgiebigst genutztes Mittel ist, um Bindungen herzustellen und aufrechtzuerhalten. Nichtsdestotrotz ist auch für Bonobos Sexualität vermutlich nicht derart mit vielfältiger – kultureller und individueller – Bedeutung aufgeladen wie für uns Menschen.
***Diese Tatsache macht sich die Werbepsychologie ausgiebig zunutze. Der wissenschaftliche Ausdruck dafür lautet „Priming“. Unsere Umgebung inkl. aller Sinneseindrücke manipuliert uns, wo wir auch gehen und stehen – wollen wir uns nicht lieber selbst manipulieren?
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